Archive pour le mot-clef ‘politik der Verachtung’

Vom Mahl aus Schutt und Asche zur Satinglut

Les Amis de Némésis

(Deutsche Übersetzung: Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Rauchzeichen aus den Banlieues, Auflage März 2006).

 

Kein Morgen mehr,
Satinglut,
Euer Feuer
Ist die Pflicht.
Arthur Rimbaud, Eine Zeit in der Hölle

 

Die vielfältigen Äußerungen der Banlieue-Bewohner, ob aufständisch oder nicht, die von der Presse wiedergegeben wurden, trafen angesichts der Krise, die sich gerade in ihren Siedlungen manifestiert hatte, den Nagel auf den Kopf und ließen einen ungewöhnlich hoch entwickelten Grad an Klarsicht erkennen. Das Phänomen der „Müllkippen-Siedlungen” ist derart klar und massiv, dass niemand sich darin täuschen kann, außer man will dies aus mehr oder weniger schändlichen Gründen tun. Man rührt hier an einen Sachverhalt, den die kapitalistische Gesellschaft, wenn sie schon nicht verhindern kann, dass man ihn begreift, auf keinen Fall ändern kann. Jede „Verbesserung » würde eine Transformation vom Grunde auf voraussetzen, die sich als unvereinbar mit der ureigensten Natur dieser Gesellschaft zeigt. Daher ist es absurd, in dem Moment von der „Schaffung neuer Arbeitsmärkte” zu sprechen, in dem sie in allen industrialisierten Ländern mit größter Geschwindigkeit verschwinden. Oder von der „Erhöhung des Entwicklungsstandes der Individuen”, während die entwickelteren Individuen mehr und noch schwerer zu befriedigende Bedürfnisse und Wünsche hätten und als solche in der Lage wären, ihre Wut auf vielfältigere und ansteckendere Weise auszudrücken. Oder davon, „die Berufsausbildung zu verbessern”, während die Ausbildung keine Beschäftigung schafft und man so schlichtweg noch spezialisiertere Arbeitslose hat als zuvor etc. Man kann nicht das Los einer Bevölkerung „verbessern”, die verdammt ist durch die Bewegung des Werts (d. h. durch die ökonomisch notwendige Verknappung der menschlichen Arbeit und durch die Notwendigkeit, nur noch weit entfernte und wenig kostenintensive Arbeitskräfte auszubeuten) und durch die „politischen Ideen”, die über die Verewigung des Ersteren wachen („Ideen”, die keine Ideen mehr sind, und „Politiker”, die kein Recht mehr haben, Ideen ihr eigen zu nennen, da jede wahrhaftige Idee notwendigerweise vom business plan der „Gesellschaft”, d. h. des Kapitals, abrücken würde). Wenn es etwas gibt, was diese dauerhaften und unantastbaren Sackgassen beweisen, dann wohl dies, dass es nicht mehr die Frage ist, die Gesellschaft zu ändern, sondern nur noch, sich eine andere zu schaffen.
Wenn die Dumpfbacke Ségolène Royal , die niemals ihren Horizont eines Bobo  aus dem sechsten Arrondissements verlassen hat, vorschlägt, den Wehrdienst wieder einzuführen, „um die jungen Leute anzupassen und zu strukturieren”, und Chirac ein solches Bidet rittlings besteigt, zeigt dies, welche Gipfel des strategischen und gesellschaftlichen Denkens das politische Personal zu erreichen trachtet. Fügt man dem noch die generelle Abschiebung von jedem hinzu, der nicht so blond, so groß und so langschädelig ist wie Nicolas Sarkozy , hat man schon den Rundgang durch die „Lösungen von morgen” beendet. Und sie sind haargenau dieselben, die man, seit einigen Jahrzehnten eines Fassadenhumanismus, übereinstimmend als die Lösungen von vorgestern betrachtete.
Die erzwungene Hellsichtigkeit der Bevölkerung und die notwendige Lüge des „politischen” Personals werden so zu den Antipoden an einer immer länger, immer gespannter und immer brüchiger werdenden Front: eines sich verschärfenden Systemwiderspruchs. Dieses viel versprechende Ergebnis wird allerdings durch zwei Umstände eingeschränkt, die in dem besonderen Charakter der aufständischen Sphäre einerseits (die Schwarzen und die Araber) besteht, wie auch in den begrenzten oder bornierten Zielen, die sich diese Sphäre vornimmt (will man mit dem System der Ware oder bloß mit seinen Ungleichheiten brechen, von denen man nicht verstanden hat, dass sie ihm immanent sind?). Dies sind die beiden Faktoren, die seit Jahren die Entwicklung der Aufstandsbewegungen hin zu einem Beginn der Revolution verhindern, Faktoren, die in der Tat darauf hinauslaufen, diese Entwicklung in ihr Gegenteil zu verkehren: in die unmögliche Suche nach Integration, oder schlimmer, in einen zivilen Konflikt zwischen Teilen der Gesellschaft. Die von den verschiedenen „Politikern” verteidigten Taktiken zielen stets auf die eine oder andere dieser Überlebensperspektiven für das herrschende System ab.
In einem derartigen Kontext ist es die vordringlichste Aufgabe der theoretischen Kritik, im Rahmen ihrer Mittel diese beiden Hindernisse anzugreifen: Das Gegeneinander „ethnischer” Gruppen ist zu reduzieren (aber anders als durch den lachhaften und oberflächlichen Anti-Rassismus), und die Unmöglichkeit einer allgemeinen „Integration” ist aufzuzeigen (die Produktion menschlichen Abfalls ist vom System der Ware nicht zu trennen, und schon gar nicht von seiner aktuellen Spätphase). So könnte die theoretische Kritik dazu beitragen, dass in den sich ankündigenden kommenden Konflikten ihr begrenzter  Charakter sich auflösen würde.
Die Medien und andere Inhaber des öffentlichen Wortes haben natürlich schon bis zum Überdruss die nicht wünschenswerten Folgen der „blinden” Gewalt auf die Gesamtheit der Bevölkerung hervorgehoben, die ihres Busses und des Arbeitsortes beraubt wurde, ihr Auto eingeäschert wieder fand oder mitten in der Nacht von der CRS  oder der Feuerwehr geweckt wurde. Was kann man aber über so etwas sagen, ohne in einen sterilen Moralismus zu verfallen, der für sich allein schon eine Art geistiger Ausgangssperre wäre?
Das herrschende System ist einerseits nicht mehr, wie zur Zeit des Ancien Régime oder des starken Nationalstaats, ein zentralisiertes System, das einen „Sitz der Macht” darstellt, gegen das die aufständischen Bauern mit Mistgabeln und Sensen in der Faust marschieren müssen. Es ist nicht mal mehr ein Netz von Fabriken, das die Produzenten blockieren oder sich aneignen können. Es ist zu einer diffusen Ordnung geworden, die allgegenwärtig in Erscheinung tritt, dem Warenwert gleich, der sich durch alle Momente des ökonomischen Zyklus hindurch konstituiert (durch die Produktion, die Zirkulation und die Konsumption der Waren), in der die Menschen ohne Anstellung, und vor allem ohne Einkommen, vor sich hin vegetieren. Die Offensive gegen dieses System trifft es folglich überall an, und zwar genau so gut in einem Supermarkt wie in einer Schule, in einem Gebäude der Öffentlichen Hand wie in einem Festsaal, in den Automobilen wie in den anderen Transportmitteln; und so erscheint es, zumindest nach dem Ereignis, leichter zu verstehen, dass, welches dieser Ziele man sich auch vornimmt, dies in jedem Fall Unannehmlichkeiten für Dritte hervorrufen wird. Es gibt kaum einen zugänglichen Ort mehr, an dem ausschließlich die Macht behindert oder angegriffen werden könnte.
In den Trabantenstädten, in die das Marktsystem die Nachkommen derer, die es vor vielen Jahrzehnten während seiner industriellen Expansion kommen ließ und deren schlecht bezahlter Arbeitskraft es bedurfte, die nunmehr beschäftigungslosen Araber und Schwarzen abschiebt, hat die Jugend nicht die geringste Aussicht darauf, in der so hoch gepriesenen Normalität des Marktüberlebens zu landen. Und unter diesen Bedingungen, aus denen die Punks lang ist’s her bereits ihre Schlussfolgerung gezogen hatten („no future”), ist es illusorisch, von dieser Masse der Hoffnungslosen eine „konstruktive” Strategie zu erwarten.
Dieses System, das auf allen Stufen seines nationalen wie internationalen Funktionierens auf Gewalt beruht, hat wie niemals zuvor und nach Jahrzehnten der Warenorgien das Bild der Gewalt als einziges Ventil für einen jeden propagiert, um sich dann gegenwärtig nicht schlecht zu wundern, dass die Öffentlichkeit ihre Lektion gelernt hat. Nachdem die Warenwirtschaft den Verfall der Individuen, aus dem allein sie ihren Gewinn schöpft, willentlich herbeigeführt hatte, hat sie es wie kein anderes System der Herrschaft zuvor verstanden, den objektiven und materiellen Bedingungen des Elends seine subjektiven und mentalen hinzuzufügen. Und dies, um massenweise Individuen herzustellen, die absolut der Möglichkeit beraubt sind, sich und sei es auch nur in der allerweitesten Bedeutung dieses Wortes zu humanisieren. Und offensichtlich wird das System, das diese Neo-Menschen produziert hat, eines schönen Tages unvermeidlich auf seinem Wege wieder auf sie treffen. Nun, wenn es sie nicht will, dann muss es sich selbst abschaffen. Was es paradoxerweise festzuhalten gilt, ist vielmehr, dass objektive Verschlechterungen von subjektiven Verbesserungen begleitet werden, wie es in jedem offen ausgetragenen Konflikt geschieht, und dass es nach Lage der Dinge für diejenigen, denen man jede Macht, und also auch jede Macht, sich als Subjekte zu konstituieren, verweigerte, einzig durch die Infragestellung der herrschenden Ordnung möglich ist, zu den Bedingungen ihres Menschseins zu gelangen. Im Aufstand gegen die Abwesenheit des Lebens haben die jungen Banlieue-Bewohner nicht gezeigt, dass sie menschliches Strandgut sind, sondern im Gegenteil, dass sie nicht darauf reduziert werden wollen. Und angesichts eines solchen Projekts und einer solchen Notwendigkeit wird nur ein Depp beklagen, dass dabei einige syntaktische Fehler begangen wurden.
Entgegen dem, was sie behaupten, hätten die Medien, die jenen famosen „Wilden der Banlieues » auf Schritt und Tritt folgten, feststellen können, dass man in keiner anderen Sphäre der Gesellschaft, vom allerjüngsten Alter an, in der Lage ist zu einem derart klaren und begründeten Verständnis der Gesellschaft, des Ursprungs dieser Unruhen und ihrer politischen Ausschlachtung, die die Macht vornehmen will, der Funktion des Rassismus als unerlässlichem Faktor des sozialen Friedens (der ethnische Krieg als Ablenkung vom Klassenkampf). Auf ausgesprochen deutliche Weise bewahrheitet sich so, dass solche Zusammenstöße zu verstehen erlauben, dass das Spektakel, wie es von ihm zu erwarten war, ein verkehrtes Bild dieser Bevölkerungen aufstellt. Es staffiert sie als den Popanz des „verantwortungsvollen Bürgers” aus und sucht um jeden Preis zu vermeiden, dass ein Dialog beiden Seiten (dem Ghetto und der Stadt) ein besseres gegenseitiges Verständnis des Elends erlaubt, nicht des partikularen Elends, an dem einige leiden (an der Armut, an einem von allem enteigneten Überleben, an der Nicht-Teilhabe am ökonomischen Zyklus), sondern des universellen Elends, woran alle leiden (an der Notwendigkeit zu arbeiten und an der Unterwerfung unter die Diktatur der Ökonomie). Und dieses Verständnis wäre heute die ernsteste Bedrohung für das System. Fast nirgends findet man unter den jungen Aufständischen diese Faszination für die Gewalt, diesen Geschmack an der Brutalität und diesen jeden Gedankens beraubten Nihilismus, aus denen in der herrschenden Bilderwelt das Arsenal der Aufständischen besteht und die die Ware in Zeiten des „sozialen Friedens » sich zu fördern bemüht. Und gerade diese angeblichen „Barbaren” scheinen vom Respekt besessen zu sein, von jener zivilisierten Eigenschaft also, die sie nirgends vorfinden und als grundlegend abwesend in einer „Gesellschaft” erfahren, die aus Fabriken, Supermärkten und Polizeipräfekturen besteht. Ihnen gegenüber drückt sich überall letztlich nur der alte Hass der Etablierten auf die gefährlichen Klassen aus, der von den Medien wach gehalten wird, auch um dem immer proletarisierteren, aber außerhalb der Banlieues lebenden Teil der Bevölkerung klar zu machen, dass angesichts dieser Barbaren die „einfachen Leute” und die „Privilegierten” einen gemeinsamen Feind haben, gegen den sie, zum großen Glücke, der Staat verteidigen wird (und hierin spielen die Banlieues auf nationaler Ebene die gleiche spektakuläre Rolle, wie auf internationaler der Terrorismus). Des Weiteren wird dann, womit man auch schon rechnen musste, die Radikalität des Zorns, der sich äußert, von Bush mit den Machenschaften Bin Ladens und von Putin mit einer tschetschenischen fünften Kolonne gleichgesetzt worden sein, womit man den unwiderleglichen Beweis für den absoluten Mangel an Seriosität des Sprachgebrauchs der verschiedenen Mächte erhalten wird. Auch die Place Beauvau  (6) hätte gerne die Illusion geschürt, dass es sich um durch Drogenhändler oder islamistische Fundamentalisten hervorgerufene Unruhen gehandelt hätte, während diese beiden Kooperationen erwiesenermaßen nichts mehr verabscheuen, als die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen und ihre Netzwerke zu entschleiern. Niemand unter den Besitzern der offiziellen Lüge kann akzeptieren zu sehen, worum es sich in Wirklichkeit handelt: um eine durch die bestehende Ordnung klar bestimmte Negation, um den unverkennbaren Ausdruck des sozialen Ausschlusses, der der Bewegung des Kapitals inhärent ist.
Die Repressionsmaßnahmen, die sich in aller Strenge ankündigen, werden nur die Politik der Verachtung, die bereits weitgehend am Ursprung des Konfliktes stand, bestätigen; und auf diese Weise die Wiederholbarkeit des Phänomens vorbereiten. Die polizeiliche Verbissenheit im Reinzustand hat den schlechten Geruch von 1905: Sie beweist, dass die herrschende Klasse nichts anderes mehr in Erwägung ziehen will, und dass sie keinerlei Kompromiss mit der Wahrheit mehr eingehen kann. Eingeklemmt zwischen einer gesteigerten inter-nationalen Konkurrenz, dem gewinnsüchtigen Wunsch, trotz allem ihre Profite zu steigern, und der obligatorischen Verwaltung der nicht mehr zu beschäftigenden proletarischen Reserve, sucht sie jede Gelegenheit, sich dieser letzteren zu entledigen. Da die Abschiebung aller kaum denkbar ist, wird sie eine andere, kaum weniger inhumane Vorgehensweise finden müssen. Man kann ihr vertrauen: es wird keine Gefechtspause mehr geben.

Les Amis de Némésis, 13. November 2005


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